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GESCHICHTE

ikarus.thingers e.V. auf Höhenflug
Die Geschichte des Ikarus.
Quelle: Bayerische Sozialnachrichten Ausgabe 2/2008

Thingers, ein Stadtteil von Kempten/Allgäu ist im Jahr 2000 ein Stadtgebiet, das von schlechtem Image, starken kulturellen Unterschieden und sozialen Konflikten gekennzeichnet ist. Sein nördlicher Bereich ist geprägt von einer typischen Wohnblocksiedlung mit Zeilenbebauung und Punkthochhäusern mit dem entsprechenden sozialen Konfliktpotenzial. Thingers ist zum sozialen Brennpunkt geworden und damit „ein Fall“ für das Projekt Soziale Stadt. Eine vorbereitende Untersuchung kommt zu der Erkenntnis, dass städtebauliche Veränderungen nicht genügen werden, sondern zusätzliche soziale Kompetenzen geschaffen werden müssen. Ein Vereinsleben existiert zu diesem Zeitpunkt in Thingers nicht.

Dieses Untersuchungsergebnis wird zur Initialzündung für die Gründung des Vereins ikarus.thingers e.V. Nach einiger Suche finden sich engagierte Bürger, die am 25.07.2001 den Verein ikarus.thingers e.V. gründen und eine umfassende und detaillierte Vereinsstruktur aufbauen, die ein vielfältiges Angebot integrativer Projekte im sportlichen und kulturellen Bereich sicherstellen kann.

Bereits die Namensgebung kennzeichnet die Philosophie der Vereinsgründer: „Ikarus“ steht für den engagierten Optimismus der Vereinsgründer, die bereit sind, sich auch fast aussichtslosen Herausforderungen stellen. Der Absturz des antiken Namensgebers ist das Warnsignal, nicht den Boden der Realität zu verlassen. Und die Verwendung des Stadt-teilnamens, trotz seines damals schlechten Images, ist Ausdruck der Überzeugung, dass es gelingen wird, über die Vereinsarbeit auch den Stadtteil positiv in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken.

Zum Zeitpunkt der Vereinsgründung stehen weder geeignete Raumangebote noch Integrationskonzepte und erst recht noch keine bestehenden Angebote zur Verfügung. Die Vorzeichen stehen eigentlich schlecht. Alles ist für die Vereinsgründer Neuland.

Doch schon bald lernt der Verein wie sein antiker Namensgeber das Fliegen und startet zu seinem Höhenflug. Über eine Vielzahl eigener Aktionen und mit tatkräftiger Unterstützung des Quartiersmanagements, der Stadt Kempten, des Projekts Soziale Stadt, des „Arbeitskreis Stadtteilentwicklung Thingers“ gelingt es dem Verein, auf sich aufmerksam zu machen und das Interesse und die Neugier der Bürger zu wecken. Mit viel Optimismus, unermüdlichem Einsatz und manchmal auch Hartnäckigkeit gelingt es, unter dem Dach des Projekts Soziale Stadt ein funktionierendes Netzwerk zu schaffen und dem Stadtteil neues gesellschaftliches Leben einzuhauchen.

Einen wichtigen Meilenstein für den Erfolg des Vereins setzt die Stadt Kempten im Sommer 2002 mit ihrer Bereitschaft, Räumlichkeiten in Thingers anzumieten und sie als Bürgertreff der Integrationsarbeit zur Verfügung zu stellen. Im Herbst 2006 werden die Grundbedingungen nochmals verbessert. Nach einer großen Umbauaktion übergibt die Stadt Kempten die Räumlichkeiten des Bürgertreffs der Verantwortung des Vereins. Ein Betreibervertrag stellt sicher, dass der Bürgertreff als offenes Bürgerhaus auch weiterhin der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

In der Rückschau wird deutlich, welche großen Erfolge der Verein bereits verbuchen kann. Eine Auswahl zeigt die Vielfalt der Vereinstätigkeiten und die enge Verbundenheit des Vereins mit seinem Stadtteil:

Im Rahmen des Projekts „Kunsttage in Thingers“ wird eine jährliche, 2-tägige Kunst-ausstellung organisiert, die Werke von Künstlern zeigt, die im Stadtteil wohnhaft bzw. mit diesem verbunden sind. Das „Jugendtheater Ikarus“ bietet Jugendlichen seit Jahren die Möglichkeit, sich unter gezielter Anleitung von Theaterpädagogen auf einer Bühne auszu-drücken. Das Theaterstück „Die Maske“, ein pantomimisches Tanztheater, wurde auf zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen im Stadtbereich vorgestellt. Mit der Veranstaltung der „1. HipHop Stadtmeisterschaft Kempten“ wird Jugendlichen der ganzen Region eine neue Möglichkeit gegeben, sich auf sportliche Art und Weise gegenseitig herauszufordern. Im Rahmen eines Filmprojekts wird der Film „Thingers – betreten auf eigene Gefahr“ produziert. Schlagzeile der Allgäuer Zeitung aus diesem Tagen: „Wenn das Kino aus allen Nähten platzt, läuft der Film Thingers – betreten auf eigene Gefahr – Streifen begeistert Jugendliche“

Auch direktes soziales Engagement ist ein Markenzeichen des Vereins. Im Rahmen des Projekts „Bürgerladen“ wird seit nunmehr mehr als 2 Jahren regelmäßig einmal pro Woche sozial schwachen Personen ein verbilligter Lebensmitteleinkauf mit symbolischen Preisen ermöglicht.

Neben seinen Einzelprojekten bietet ikarus.thingers e.V. auch regelmäßige Gruppenangebote an. Auch dort zeigt sich die Vielfalt der Betätigungsfelder des Vereins: Fußball, Volleyball, Qi-Gong, Schach, Nähgruppe, Tischtennis, Bauchtanz, Malkurs, Aerobic sind nur ein Teil des Vereinsangebots.

Aktuelle „Highlights“ des Vereinlebens sind u.a.: Beteiligung am „Kemptener Jazzfrühling“; Aufbau eines Ton- und Filmstudios (Erstproduktion ist der „Thingers-Rap“, in dem Jugendliche mit eigenem Text ihre Meinung zum Projekt Soziale Stadt und der Entwicklung des Stadtteils ausdrücken), Erarbeitung eines tragfähigen Konzepts für eine Stadtteilzeitung, Aufbau eines Veranstaltungsservices zur Verbesserung des Vermietungsangebotes im Bürgertreff. Eine besondere Hervorhebung verdient das Projekt „Sprachpatenschaften“. Hier sind 28 Erwachsene aktiv, die sich um 42 benachteiligte Kinder aus Migrantenfamilien kümmern, ihnen sprachliche Unterstützung bieten und kulturelle Kenntnisse vermitteln.

Seit dem 1.1.2008 ist der Verein auch verantwortlicher Träger des Quartiermanagements. Eine Aufgabe, die der Verein gerne übernommen hat, weil sie zwar mit Mehrarbeit verbunden ist, gleichzeitig aber auch das Vertrauen und die Anerkennung symbolisiert, die die Stadt Kempten der Vereinsarbeit entgegenbringt.

Die Vielzahl der Vereinsangebote ist nicht ohne Resonanz geblieben. Mit Stolz kann der Verein auf die Entwicklung seiner Mitgliederzahlen verweisen. Gegründet im Jahr 2001 von 19 Gründungsmitgliedern, ist die Zahl der Mitglieder im Jahr 2004 bereits auf 56 angewachsen. Aktuell kann der Verein auf mehr als 150 Mitglieder bei immer noch steigender Tendenz verweisen. Den Grund für diese Entwicklung erklärt Gottfried Feichter, 1. Vorsitzender des Vereins so: „Wir haben ein überaus vielfältiges Angebot, welches für Personen aller Altersgruppen und jeder Herkunft interessante Möglichkeiten bietet. Unsere Besucher und Mitglieder fühlen sich verstanden und ernst genommen. Sie sehen, dass wir sie mit Engagement ohne Eigeninteresse unterstützen, ihre Vorschläge ernst nehmen und als Verein sehr viel für eine Verbesserung des sozialen Umfelds erreichen“.

Die große Akzeptanz in der Bevölkerung bestätigt auch Kiymet Akan, die vor Ort als Mitarbeiterin des Vereins im öffentlichen Auftrag das Stadtteilbüro betreibt. Sie hat selbst einen Integrationsprozess durchlebt und besitzt deshalb ein besonderes Verständnis für die Sorgen und Ängste der Bewohner des Stadtteils. Für sie liegt der Erfolg des Vereins vor allem darin, „dass den Bürgern ein vielseitiges Angebot vermittelt wird und auf ihre Interessen Rücksicht genommen wird“. Gerade das Stadtteilbüro sei „zu einer allgemeinen Anlaufstelle für Migranten geworden und die anfängliche Scheu, mit Problemen vorstellig zu werden, sei zurückgedrängt“.

Die Bedeutung der Vereinsarbeit beweist eine Studie zur Quantifizierung ehrenamtlich erbrachter Leistungen, die am Beispiel des ikarus.thingers e.V. als Projektarbeit der Hochschule Kempten gefertigt wurde. Die Netto-Wertschöpfung, die die ehrenamtliche Arbeit der Vereinsmitglieder allein im Jahr 2006 erbracht hat, ergab den fast unglaublichen Wert von 183.583,20 EURO. Ein Ergebnis, das selbst für Vereinsinsider überraschend war.

Was ist das Erfolgsrezept des ikarus.thingers e.V.? An erster Stelle steht hier natürlich das unermüdliche Engagement seiner aktiven Vereinsmitglieder. Erfolgsgaranten sind aber auch die mit Hilfe des Projekts Soziale Stadt erreichte Vernetzung und gegenseitige Unterstützung sowie die baulichen Veränderungen des Wohnumfelds. Entscheidend ist auch die gute Zusammenarbeit mit der Stadt Kempten und ihre Entscheidung zum Ausbau des Bürgertreffs, mit dem für die Integration in Thingers eine „Heimat“ geschaffen werden konnte.

Der Höhenflug des ikarus.thingers e.V. ist auch nach 10 Jahren noch längst nicht beendet. Die Verantwortlichen des Vereins sind überzeugt, dass es zu einem Absturz wie bei seinem antiken Namensgeber nicht kommen wird.

Auch nach dem Rückzug des Projekts Soziale Stadt aus Thingers, ist das im Stadtteil geschaffene Netzwerk bereits so fest geknüpft, dass es tragfähig genug sein wird, auch künftig eine erfolgreiche integrative Arbeit sicher zu stellen.

Verantwortlich für den Text: Edwin Reichert